Rückerinnerung: Schulstrafe 1952

Schulstrafe 1952

Grundschule, Winter, Schulbrot in der Klasse vergessen; zurück in den Klassenraum, Frühstücksschnitten holen.
Da, im Klassenraum, ein Kreidestück auf dem Boden. Paul blickt an die Wandtafel, ein Schülermachwerk, erkennbar, ein nackter Frauenkörper mit üppigen Attributen der Weiblichkeit. Bildunterschrift: „Inge Klier“.
Gedankenverloren, den Blick an der Tafel hob er das Kreidestück langsam auf und drehte es zwischen den Fingern.
Die Klassenraumtür hatte sich leise geöffnet; ein Lehrer sah einen Schüler, der in der Pause im Klassenraum nichts zu suchen hatte, sah die obszönen Tafelschmiererei und Paul mit einem Kreidestück in der Hand.
Eigentlich war alles klar, der Missetäter war überführt. Leugnen zwecklos! Ganz großes Vergehen!
Am nächsten Tag hatte Paul mit seiner alleinerziehenden Mutter zum Pädagogischen Rat der Lehrer zu erscheinen. Die Verworfenheit der Kinder im allgemeinen und speziellen Fall wurden ausführlich beleuchtet. Paul war in andern Zusammenhängen schon aufgefallen, besonders durch Faulheit.
Leugnen half nicht bei der erdrückenden Lage der Indizien. Der verstockte uneinsichtige Sünder, der die Tat abstreiten wollte, zeigte keinerlei Reue oder Einsicht.
Auf Beschluss der Lehrerkonferenz wurde entschieden, eine Woche Strafe: drei Tage Schulverbot; dreimal 2 Stunden Nachsitzen, Sprechverbot der Mitschüler mit dem Bestraften. Die alleinerziehende Mutter rundete mit einer Woche Stubenarrest die Bestrafung ab.
Paul verstand die Welt der Erwachsenen nicht mehr. Mehr Ungerechtigkeit ging nicht!
Vergessenes Pausenbrot im Klassenraum holen, das war eine gefährliche Angelegenheit. Wo blieb die Gerechtigkeit? Wut auf Lehrer und Schule wuchsen uferlos …

Drei Tage schulfrei – unter normalen Bedingungen ein Geschenk -, aber jetzt?
Durch die Gardinen beobachtete er heimlich wie die Mitschüler zur Schule gingen und heim kamen. Schule, sonst immer ein notwendiges Übel, bekam durch das Verbot eine neue Perspektive. Neid auf die anderen Schüler kam auf, Wut auch auf den Feigling, der die Tafel beschmiert hatte und nicht bestraft worden ist. Die Sehnsucht nach Schule und verbotenen Unterrichtsstunden wuchs täglich.
Das Nachsitzen nach dem Unterricht begann am Donnerstag. Nicht mit den Mitschülern reden zu dürfen verletzte stärker als die Aussicht auf Nachsitzen plus Strafarbeit.
Alle Mitschüler hielten sich an das Redeverbot, da der Klassenleiter die Verwerflichkeit der Tat anschaulich und überzeugend vermittelt hatte.
Nachsitzen, das hieß, in der leeren Schule Strafarbeit zu verrichten. Paul musste einen dreizeiligen erziehungswirksamen Text 400 mal abschreiben. Gewertet wurden nur die Textteile, die gut geschrieben und fehlerfrei waren. Nach 20 Textwiederholungen wurde die Schrift immer unleserlicher, Fehler machten sich breit. Er legte eine Pause ein!
Vorsichtig öffnete Paul die Tür zum Flur und bemerkte, dass die Reinigungsfrauen in einem anderen Schulteil säuberten.
Gegenüber auf dem Fensterbrett stand eine Literflasche blauer Tinte zum Auffüllen der Tintengläser in den Schulbänken. Die Doppeltür zum Schulleiterzimmer nebenan stand weit offen; ein riesiger Gummibaum mit vielen Verzweigungen dominierte den Raum. Liebevoll waren die Zweige an den Wänden entlanggeführt worden.
Im unteren Flur rumorten die Reinigungsfrauen.
Ein Gedanke schaffte sich im Kopf Raum und formte sich. Die Wut über das erlittene Unrecht beschleunigte den Puls und trieb den Gedanken in den Elementen Tinte - Gummibaum vorwärts: Tintenflasche öffnen, in den völlig ausgetrockneten Pflanzkübel des Gummibaums gießen, zurück in den Klassenraum und weiter Strafarbeit schreiben. Alles erfolgte sekundenschnell, Erleichterung! Er hatte seiner Wut auf Lehrer und Schule ein Ablassventil geöffnet.
Am nächsten Morgen beobachtete Paul, dass Lehrer einzeln und in Gruppen häufiger als üblich in das Zimmer des Schulleiters pilgerten und sich anschließend angeregt unterhielten.
Zwei Tage später konnte Paul den Grund für die häufigen Lehrerbesuche beim Schulleiter selbst sehen. Der bewusste Gummibaum stand traurig und mit hängenden Zweigen auf der Schultreppe. Einige Blätter ganz oben zeigten noch eine intensive blaugrüne Färbung; die anderen Blätter hingen braun und schlaff herunter.
Paul staunte!
An diese Wirkung hatte er nicht gedacht. Der ausgetrocknete Gummibaum hatte wohl allzu gierig die Tinte aufgesogen, im Geäst verteilt, aber schlecht vertragen?
Nachforschungen unter der Schülerschaft wurden nicht angestellt, weil sich die Lehrer nicht vorstellen konnten, wie Schüler in den stets verschlossenen Raum gelangt sein sollten.
Paul empfand Erleichterung; er hatte was gegen die große Ungerechtigkeit unternommen. Halb und halb war seine Wut verflogen. Schade nur, er konnte mit seinen Mitschülern darüber nicht reden …
Um den Rest der Wut auf die Ungerechtigkeit abzubauen hatte er sich einen Stecker gebastelt, in dem die beiden Pole miteinander verbunden waren. Die Steckdose befand sich hinter seinem Rücken in der letzten Bank.
In den Wintermonaten, wenn es in den ersten zwei Stunden noch dunkel war, schob er den Stecker immer mal in die Steckdose und erzeugte einen Kurzschluss. Die Lehrer mussten ihren Unterricht den Lichtverhältnissen anpassen. Das unterließ er erst, als er eine Hausaufgabenkontrolle in Mathematik kurz vor seinen Platz verhindern wollt. Der Lehrer stellte auf Kopfrechnen um, als es zu dunkel zum Schreiben war: Alle aufstehen und wer das Ergebnis zuerst wusste, konnte sich setzen. Hier schnitt er schlecht ab, weil er immer an den Stecker in seiner Hosentasche denken musste. Er konnte sich nicht konzentrieren.
Eines Tages erzeugte er wieder einen Kurzschluss im Russischunterricht, weil er keine Vokabeln gelernt hatte.
Der Hausmeister hatte wohl der häufigen Kurzschlüsse wegen auf diesem Schulflur eine stärkere Sicherung eingeschraubt?
Es wurde dunkel im Raum, zischte aber auch in der Steckdose und der Stecker ließ sich nicht mehr herausziehen. Es roch nach verschmorter Isolierung. In einem unbeobachteten Moment bekam Paul den Stecker mit zerstörerischem Kraftaufwand doch noch heraus.
Nun war für ihn die Wut auf Ungerechtigkeit verraucht. Sprechen konnte er über seine Taten aber immer noch nicht mit den Mitschülern oder den Freunden.

Erst zu einem Klassentreffen 50 Jahre nach dem Schulabschluss berichtete er über seine Unternehmungen gegen die Ungerechtigkeit an der Schule. Der Tafelmaler outete sich aber auch jetzt nicht, obwohl alle ehemaligen Mitschüler anwesend waren.
Jetzt, nach mehr als 50 Jahren, hatte sein Kampf gegen die Ungerechtigkeit einen hohen Unterhaltungswert …

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