Kurzgeschichte: Grablegung eines Stalinisten
Grablegung eines Stalinisten
Älter
und alt werden alle. Das geschieht ganz schleichend und unbemerkt,
weil die, mit denen man Jahrzehnte gelebt hat, den gleichen Prozess
durchlaufen.
Als nach
dem Studienabschluss Anfang der 60er Jahre die erste Lehrerstelle
angetreten wurde, unterrichteten viele ehemalige Neulehrer seit fast
2 Jahrzehnte an der Oberschule der Thüringer Kleinstadt. Das waren
die Alten, die ältere Generation mit Notabitur und Flakhelfer
Erfahrung in den letzten Kriegstagen.
Einer
von denen geriet mit 19 in russische Gefangenschaft, Heinrich
Kolbrenner. Ihn traf es mit seinen 19 Jahren besonders hart in einem
Gefangenenlager in den Wäldern Kareliens. Schwere Arbeitseinsätze
am Holz tagein, tagaus löschten das Menschsein fast aus. Später dann
wurden Kurse angeboten im Gefangenenlager, antifaschistische Kurse.
Die Teilnahme daran erleichterte die harte Waldarbeit etwas.
Im
Mittelpunkt der Kurse standen der Faschismus, seine Ursachen und
Auswirkungen für die Welt. Besonders Schriften von Stalin waren
Grundlage der Unterrichtung. In vielen Diskussionen kam er zu der
Erkenntnis, einen solchen Krieg darf es nie wieder geben und dafür
wollte er etwas tun. Seine gewonnenen Überzeugungen schienen im
Gefangenenlager glaubhaft zu sein. Er wurde etwas früher entlassen
als seine Leidensgenossen. Zu Hause angekommen, erfuhr er, Neulehrer
werden gebraucht. Er meldete sich, weil er seine Friedenssehnsucht
als Lehrer so am besten verwirklichen konnte. Eine solche Erfahrung
von Krieg und Gefangenschaft wollte er der nächsten Generation
ersparen.
Im
Neulehrerseminar fiel er durch einen besonders festen Standpunkt auf
und war belesen in Stalins Schriften. Er schaffte einen guten
Abschluss, kam aber als Neulehrer nicht zum Einsatz, weil die SED,
deren Mitglied er geworden war, erkannt hatte, dass er gut als
Agitator in ihrer Kreisleitung zu gebrauchen war. Dort agitierte er
viele Jahre. Dann starb Stalin und sein Weltbild geriet
durcheinander. Später erfuhr er nach einem Parteitag der KPdSU von
Stalins Verbrechen und erlebte die allgemeine Abkehr von seinen
Lehren und Schriften. Eine Welt brach für ihn zusammen.
Alles
wurde komplizierter und unübersichtlicher. Aber der sich
verschärfende Kalte Krieg bot weiterhin viele
Betätigungsmöglichkeiten für seine agitarorischen Fähigkeiten.
Der Westen Deutschlands, wo alles weiter ging, als habe es keine
Nazivergangenheit gegeben, wurde jetzt sein Arbeitsschwerpunkt. Den
Holocaust gab es nicht, Nazirichter und hohe Offiziere der Wehrmacht
arbeiteten weiter unbehelligt im Staatsdienst. Dann kamen die 68er
und er schöpfte etwas Hoffnung.
Allein,
seine Überzeugungsarbeit war immer noch vom stalinschem Denken
geprägt. So richtig passte er nicht mehr in die neue Zeit und in den
Kurs der SED. Man empfahl ihm, doch wieder als Lehrer zu arbeiten.
Nach
einigen Schnellkursen wegen besonderer politischer Verdienste wurde
er Fachlehrer für Geschichte/Staatsbürgerkunde an der
Polytechnischen Oberschule. Gesegnet mit wenig pädagogischem
Fingerspitzengefühl und didaktischen Fähigkeiten erzog er
„Klassenfeinde“, meinten einige Kollegen. Für ihn gab es nie
Fragen nach Parteitagen oder einem Plenum der SED; er vermittelte
drauf los. Diskussionen und Überzeugungsarbeit waren nie sein Ding.
Für ihn galt der Stalin Ausspruch: „Wenn die Linie klar ist,
entscheiden die Kader alles!“
Als
Geschichtslehrer vermittelte er einfache Wahrheiten: Die Geschichte
ist eine Geschichte von Klassenkämpfen; die Menschen erobern sich
die Welt und machen sie sich untertan; Menschen bauen Städte und
Häuser aus Erde und alles wird wieder zu Erde, auch der Mensch
selbst.
Etwa 40
Generationen haben seit Beginn der Zeitrechnung die Erde bevölkert,
aber nur ganz wenige haben eine breite Spur gelegt, die sich bis
heute verfolgen lässt: Robert Koch, Hitler, Marx, Humboldt,
Einstein, Stalin, Napoleon, Mozart, Nero u.v.a.m., auch Goethe und
Schiller. Aber auch die werden nach den nächsten 2-3 Generationen im
Ablagefach der Geschichte landen und nur noch für Wissenschaftler
interessant sein. Nur die Spuren der größten Verbrecher oder
genialer Menschen sind noch ein Weile zu finden.
Die Erde
dreht sich weiter …
In
Staatsbürgerkunde vermittelte er seine Weltsicht kompromisslos
weiter; alles ist real und geprüft; die Welt ist erkennbar, der
Sozialismus siegt, ihm gehört die Zukunft. Warum darüber noch
diskutieren? Aus dem Osten kommt das Licht, kommt die Zukunft! „Die
Partei, die Partei, die hat immer recht.“ „Proletarier aller
Länder vereinigt euch.“ Der Sozialismus ist dem Kapitalismus
haushoch überlegen, ihm gehört die Zukunft; die Kirche gemeinsam
mit dem Adel haben die Menschheit Jahrtausende lang geknechtet. Es
gilt, die Welt nicht zu interpretieren, sondern sie zu verändern.
Das war seine Überzeugung! Dafür stand er.
Diese,
seine Weltsicht wurde dargelegt, an die Tafel geschrieben, war
auswendig zu lernen und wurde dann überprüft und benotet. Mit
Beginn der 80er Jahre wurde das schwieriger.
Westfernsehen
und Rentnerbesuche im Westen vermittelten ein anderes Bild und
mehrmals gingen ganze Klassen gegen ihn auf die Barrikaden. Er stand
dann mit dem Klassenbuch vor der Brust in einer Ecke und die Klasse
bedrängte ihn.
So
richtig unbeliebt war er aber auch nicht im Kollegium. Er rauchte
nicht, trank keinen Kaffee, wusste in vielen Dingen Lebensrat,
verbreitete auch lustige Erlebnisse, redete nie über andere und man
hörte den Dialekt des Thüringer Waldes immer noch heraus.
Mit der
Wende trat er in den Ruhestand und wurde krank. Nach mehreren
Operationen konnte er aus seinem Auto kaum noch aussteigen. Seine
Frau kaufte im Supermarkt ein; er saß im Auto und immer mal kam
jemand aus dem ehemaligen Kollegium vorbei.
Eine ältere Kollegin
sagte ihm, dass sie doch nicht so oft das Parteilehrjahr hätte
schwänzen sollen, als über den Kapitalismus gesprochen wurde, jetzt
wäre er da mit seinen Segnungen, der Arbeitslosigkeit, alles an
Menschlichkeit sei zerbrochen, nur der Maßstab Geld zähle noch!
Einige
erzählten ihm von der Umrüstung der Kaufhalle zum Supermarkt, vor
dem er parkte. Kurz bevor die D-Mark Einzug hielt, kam ein Team, um
die Kaufhalle auszuräumen. Alle Waren wurden aus den Regalen
gewischt. Mehl, Zucker, Gewürzgurken, Alkohol führten am Boden ein
trautes Miteinander. Das Gemisch ehemaliger DDR Waren wurden zum
Ausgang befördert und in einen Container verladen, ganz
symbolträchtig. Am nächsten Tag rückte ein neues Team an und
füllte die gleichen Regale wieder mit Waren, die alle aus der West
Werbung kannten. Große Gedränge zur Eröffnung, großes Staunen –
die Preise!
Ihm
wurde berichtet, dass eine mittlere Firma am Ort, die unmittelbar vor
der Wende erst fertiggestellt worden war, zu der ein großes
Grundstück gehörte, für eine DM verkauft worden sei.
Erst
freuten sich die Angestellten dieser Firma, dann, nach wenigen Wochen
waren alle Konten abgeräumt; Insolvenz musste angemeldet werden.
Dann verschwanden die Maschinen in Richtung Westen, woher sie vor
Jahresfrist geliefert worden waren und dann war einige Jahre Ruhe.
Irgendwann, später stellte der Käufer einen Antrag zwecks Abriss
der Anlage, um für den Wohnungsbau Parzellen abzustecken. Das wurde
staatlicherseits abgelehnt. Wieder einige Zeit später brannte es an
mehreren Stellen gleichzeitig auf dem Betriebsgelände. Anwohner
löschten und konnten gerade noch sehen, wie zwei PKW mit
Westkennzeichen verschwanden. Der warme Abbruch wurde vereitelt.
Nicht
viel später kam nächtlich wieder ein Arbeitsteam bei -15 Grad C.
Alle Wasserhähne wurden aufgedreht und vollendeten in weiteren
kalten Nächten unbemerkt ihr Werk. Der Frost mit dem Wasser
gemeinsam leisteten ganze Arbeit. Nun stellte der Eigentümer wieder
den Antrag auf Abriss und Parzellierung. Erst jetzt schaute man, wer
der Besitzer eigentlich sei. Es stellte sich heraus, alle seine
vorgelegten Bankdokumente waren gefälscht und in der Schweiz und
weiteren alten Bundesländern lagen Haftbefehle vor gegen ihn.
Das
waren Berichte, die seine Seele streichelten: „Das ist der
Kapitalismus!“, betonte er, „habe ich euch das nicht immer
gesagt?“
Er
konnte auch noch erfahren, dass einige Stellenausschreibungen im Ort,
die gut dotiert waren, an West Bewerber gingen und die holten Freunde
und Bekannte nach auf weitere gute Stellen. Nur in den Niederungen
saßen noch Ossis.
Dass
gleich vor seiner Nase am Rande des Parkplatzes noch ein Betrieb
stand, der von einer Westfirma ehrliche erworben und ausgebaut worden
war, viele Arbeitsplätze geschaffen hatte, sah er weniger gern. Das
passte so richtig nicht.
Diese
Sicht auf die negativen Aspekte des kapitalistischen Systems machten
es ihm leichter, seine Krankheit zu ertragen. Er hatte nicht umsonst
versucht, den Menschen den Sozialismus nahe zu bringen, sah aber ein,
dass zur Zeit keine andere Gesellschaftsformation den Kapitalismus
ersetzen könnte. „Habe ich umsonst gelebt?“
Sein
Lebensende deutete sich langsam an.
Allein,
es ging ans Sterben und die Nachricht verbreitete sich im Ort.
Mehrere Kollegen gingen zur Trauerfeier. Einige trieb die reine
Neugier, um zu sehen, wie ein solcher „Stalinist“, wie er auch
hinter vorgehaltener Hand unter den Kollegen genannt wurde, zu Grabe
getragen würde.
Für ihn
war die Welt immer klar. Der Stalinismus seiner jungen Jahre hatten
ihn geprägt, Probleme hatte er auch später nicht mit dem Kurs von
Partei und Regierung. Zweifel plagten ihn nie an der Richtigkeit
politischer Maßnahmen – „Alles Unfug!“
Er war
ein alter Parteisoldat!
Im
Kollegium war seine kompromisslosen Haltung überwiegend unbeliebt.
Zu Religion und Kirche hatte er gar kein Verhältnis; Pfaffen hasste
er zutiefst.
Nun war
Trauerfeier. Einige ehemalige Kollegen waren gekommen und gespannt,
wer die Trauerrede halten würde auf dem Ortsfriedhof in der
Trauerhalle.
Andächtige
Stille; die Türen schlossen sich und das Individuum, das mit
Aktentasche unter dem Arm am Eingang gelümmelt hatte, schritt nun im
völlig zerknittertem Talar gemessenen Schrittes den Gang entlang,
verbeugte sich vor dem Sarg und stieg die Stufen zur Kanzel hinauf.
Wo hatten die diesen Pfarrer her?
Wir alle
waren sprachlos, eine kirchliche Trauerfeier mit Pfarrer, wo er doch
auch kurz vor seinem Tod noch jedem seine ablehnende Haltung zur
Kirche vermittelt hatte?
Die
Trauerrede stammte aus einem Buch, das vermutlich Redevorschläge für
Trauerfeiern enthielt. Bunte Zettelchen schauten zwischen den Seiten
heraus. Die Trauerrede bestand aus einer Aneinanderreihung von
Bibelzitaten, dann zusammenhanglos, kamen Lebensdaten von den bunten
Notizen zum Einsatz – Lebenslauf in Kurzfassung, nichts
Emotionales, Persönliches über gelebtes Leben! Mitleid mit dem
Kollegen Heinrich Kolbrenner machte sich unter uns breit.
Beim
Blättern löste sich eines der Zettelchen und segelte hin und her
schwingend zu Boden. Der Redner schaute ein Weilchen auf den gelben
Notizzettel hinunter, überlegte, begab sich dann aber doch die
wenigen Stufen hinunter, die Notizen zu holen. Er bückte sich, aber
die Zugluft, die der Talar verursachte, trieb den gelben Zettel
weiter unter den Sarg. Jetzt musste er auf die Knie und weit unter
den Sarg langen.
War es
erst noch andächtig still gewesen, war jetzt alle Andacht dahin.
Auch aus den Reihen der Angehörigen waren keine emotionalen Laute
mehr zu vernehmen.
Der
junge Pfarrer verließ am Ende als erster die Trauerhalle, Angehörige
und Trauergäste folgen. Draußen hatte er sich abseits wieder des
Talars entledigt und in der Aktentasche verschwinden lassen. Ein
Zipfelchen schaute noch heraus.
Während
einige Trauergäste den Angehörigen ihr Beileid aussprachen, wartete
er dann am mitgebrachten Leichenwagen, der den Verstorbenen in einen
kleinen Ort im Thüringer Wald, der mit Hinter- oder Unter- begann,
wo er geboren worden war, zu transportieren. Dort sollte er auf dem
Dorffriedhof in geweihter Erde seine letzte Ruhe finden.
Wir,
seine ehemaligen Kollegen waren erschüttert, wie die Familie seinen
letzten Willen umgedeutet hatte. Das hätten wir der Ehefrau, auch
Lehrerin und vormals überzeugte, unduldsame Genossin, nicht
zugetraut. Was da abgelaufen war zu der Trauerfeier des Kollegen, der
als 19jähriger in den letzten Kriegstagen als Flakhelfer gedient
hatte und nicht wollte, dass es jemals wieder Krieg gäbe, war eher
Satire und Missachtung eines Lebens.
Wir
dachten, das hat er bei allen seinen Absonderlichkeiten nicht
verdient.
Beileid
konnten wir den Angehörigen nicht aussprechen.
Die Erde dreht sich
weiter ...
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