Damals während des Vietnamkriegs 1964

Damals, Vietnamkrieg 1964 Das Schiff entfernte sich immer weiter von Vietnams Küste, von Da Nang im Südchinesischen Meer. Das neue Ziel hieß China, die südlichste Stadt des Landes, Ende der Welt. Paul Meskat, seit 8 Jahren Rentner, lag in seinem Liegestuhl am Bug des Schiffes und beobachtete mit halb geschlossenen Augenlidern, wie im Dunst des Abends Küstenlinie und Wasserfläche ineinander aufgingen. Die Reisetage in Vietnam waren nicht nur Besuch eines Landes; Vietnam war für Paul emotional belegt und er konnte die immer wieder aufkeimenden Erinnerungen nicht einfach beiseite schieben. In den letzten Tagen erinnerte sich Paul immer wieder an 1964 und erst jetzt schien mit dem Besuch in Saigon und Da Nang der Endpunkt einer Erinnerungskette erreicht zu sein. Wie naiv waren wir nur damals? Diese Frage stellte er sich immer wieder. Da war er wieder, der Anruf der Abteilung Volksbildung im März 1964. Zur Klärung einer Angelegenheit sollte er vorsprechen. „Wir haben entschieden, dich für die Deutschausbildung vietnamesischer Praktikanten 7 Monate abzuordnen!“ Paul sollte vietnamesischen Jugendlichen die deutsche Sprach vermitteln. Konnte er das? Wie sollte das gehen? Belastet mit vielen Zweifeln sagte er nach längerem Zögern zu. Ein einwöchiger Lehrgang in Berlin zur „Deutschausbildung ohne Mittlersprache“ machten ihn nicht viel klüger, auch nicht die Vorträge zu Besonderheiten der Vietnamesen und deren Lebensweise. Viel wussten die Referenten damals auch nicht. Im Mai 1964 reisten dann seine Schüler aus Vietnam an; 18 – 22 Jahre waren sie alt, waren ununterbrochen 20 Tage mit dem Zug von Peking nach Jena unterwegs gewesen und in China hatte man sie alle in zivile dunkelblaue Einheitsuniformen in Einheitsgröße gesteckt. Paul erfuhr, dass die meisten aus kleinen Urwalddörfern am Mekong kamen, aber auch aus dem Norden, vier Klassen Elementarschule besucht hatten und noch nie ihr Dorf verlassen hatten. Nur zwei seiner Schüler hatten eine fortführende Schule besucht in einer größeren Stadt. Erst heute, nach 45 Jahren, begriff er, was das für ein Kulturschock für diese Jugendlichen damals gewesen sein muss: Heimat, Familie, Freunde hatten sie verlassen für mehr als ein Jahr, um Deutsch zu erlernen und den Beruf eines Optikers. Viele ihrer Eltern hatten ihnen zugeredet. In Deutschland könnten sie den Krieg überleben. Paul bekam seine 15 Praktikanten zugeteilt und musste mit ihnen zur Einkleidung. Die Kleidungsstücke waren dem europäischen Durchschnitt angepasst. Bei den jungen Männern bereitete das auch keine weiteren Schwierigkeiten, aber bei den Mädchen! Zur neuen Ausrüstung gehörten ungewohnte Unterwäsche, BH, Absatzschuhe. Kolleginnen halfen ihnen aufopferungsvoll. Was Vietnamesen essen, wusste so richtig auch niemand. Viel Reis, dachten alle und was noch? Darüber hatte niemand nachgedacht. Was die alles auf sich genommen hatten allein beim Essen, dachte Paul immer wieder, nachdem er die Grundprinzipien asiatischer Küche verstanden hatte. Reis wurde damals gekocht, viel Reis, schön körnig. Den wollten sie aber nicht. Die Armee half mit einer Feldküche vor dem Haus aus. Wie üblich bei deutscher Gemeinschaftsverpflegung gab es Brot, Marmelade, etwas Wurst, Scheibe Käse. Was sollten sie damit anfangen? Einige waren erfinderisch. Alles wurde in kleine Stücke geschnitten, mit Tee aufgefüllt und gelöffelt. Später wurde die Speisewürze BINO (Maggi) im Geschäft entdeckt, große Flaschen. Damit füllte man das Eingebrockte im Teller auf. Die Würze schmeckte wie eine Soße, die es im Krieg schon lange nicht mehr gab bei ihnen. Überall roch es penetrant nach dieser Speisewürze in den Räumen. Die erste Unterrichtsstunde begann. Schüler und Lehrer waren aufgeregt. Paul erinnert sich noch genau an den Verlauf. Als sie sich gegenseitig gemustert hatten, schrieb Paul an die Tafel. „Ich heiße Paul Meskat!“. Dabei zeigte er auf sich und wiederholte das mehrmals. Dann wurde sein Name durch einen Schülername ersetzt und gesprochen. Nach der zweiten Stunde wusste Paul, dass es funktionieren könnte mit dem Deutschunterricht. Noch nie hat Paul so viel ausgeschnitten aus Zeitungen und Bilder aus Katalogen, nie hat er so viele Skizzen an die Tafel gezeichnet um verstanden zu werden. Es gab keine Mittlersprache und auch keine Wörterbücher Deutsch – Vietnamesisch. Nach drei Monaten waren Gespräche über die Dinge des Alltags möglich. Im November konnte man dann schon über den Krieg, die Familie und die Politik reden. Gemeinsam wurde diskutiert, Vorträge wurden gehalten. Man lernte Telefonieren, Essen in Gaststätten, Einkaufen; man lernte deutsches Leben kennen, deutsche Kultur. Eines Tages sprach der Hausmeister Paul an, er möge sich doch mal den Schlafraum seiner Gruppe ansehen. Er war verblüfft. Alle seine Vokabeln standen in den neu gestrichenen Räumen an der Decke und an den Wänden über den Doppelstockbetten, groß und fett! Alle konnten meistens die Vokabeln der letzten Stunden gleich gut sprechen und anwenden, obwohl er doch gemerkt hatte, dass erhebliche Unterschiede in der Lernfähigkeit bestanden. Paul fand heraus, dass in den Oberbetten die schwächeren Schüler lagen. Die hatten die Vokabeln immer vor Augen. Wenn es not tat, wurde nachts das Licht nicht ausgeschaltet, damit die Lernschwächeren Vokabeln lernen konnte. Einer war immer eingeteilt, der die Obenschläfer wecken musste, wenn sie doch eingeschlafen waren. Jetzt konnte sich Paul auch erklären, warum immer mal einer mit dem Kopf auf die Bank fiel vor Müdigkeit. Er versuchte mit den Jugendlichen zu reden. Da gab es aber nichts zu reden: es war Krieg, hier war ihre Front, Eltern und Freunde starben im Krieg in der Heimat. Dann, Ende November, gab es den ersten Schnee. Diese Schauspiel konnten sie nicht fassen. Erfahrungen mit Glätte gab es nicht, sie fielen dauernd hin und nahmen Schnee mit in die Schulstube. Nach kurzer Zeit krochen kleine Rinnsale unter den Bänken hervor. Man war um eine Erfahrung reicher geworden – Schnee wird zu Wasser. Paul verstand heute mehr von ihnen, nachdem er ihre Lebensräume, jetzt, 45 Jahre später, erfassen konnte. Seine Schüler müssen Kartoffeln, Rotkraut und Möhren für traditionelles Gemüse des Nordens gehalten haben. Bei der damaligen DDR Gemüseversorgungslage hätte auch niemand helfen können. Immer wieder trafen Todesnachrichten über die Botschaft in Berlin ein. Auch Paul versuchte Anteilnahme zu zeigen, aber die meisten wehrten Mitleid ab, lernten nur noch verbissener, um den Schmerz zu überwinden. Im März 1965 war dann Prüfung. Alle schafften die Sprachprüfungen. Geschenkt wurde ihnen nichts, denn sie mussten die Lehrer an der Berufsschule und ihre Betreuer in der Produktion verstehen können. Das mit den Berufsschullehrern klappte dann auch, aber die Betreuer im Lehrbetrieb sprachen Dialekt und einige Vietnamesen meinten, es sei keine deutsch Sprache. Die Deutschlehrer mussten noch mal ran und mit Azubis und Betreuern arbeiten, damit sie sich besser verstehen konnten. Die Praktikanten lernten Richtaufsätze für russische hoch reichende Flak - Geschütze zu montieren, zu reparieren unter Frontbedingungen und zu justieren, um Flugzeuge in großer Höhe bekämpfen zu können. Bald schon waren die Azubis in das private Leben der Betreuer eingebunden. Paul in seinem Liegestuhl bemerkte, dass er allein hier vorn auf dem Schiff lag. Die anderen bereiteten sich für das Abendessen vor und waren gegangen. Die Dunkelheit hatte Sterne geboren. Was ist aus ihnen geworden, seinen Schülern? Vielen Leuten hatte er beim Landgang ins Gesicht geschaut; sie mussten heute 65 Jahre alt sein, aber er wusste, er konnte niemanden treffen … Mehrmals fragte er auch nach dem Krieg, wenn er in Deutsch angesprochen und nach Leipzig oder Dresden gefragt wurde, aber die unter 40jährigen wussten fast nichts vom Krieg, alles lange her ... Erst Jahre später hat Paul erfahren, dass den Fronteinsatz nur wenige überlebt hatten. Seine aufgeschlossenste und intelligenteste Schülerin Le thi Hoa war schon beim ersten Einsatz gefallen während der Justierung des Richtaufsatzes eines Geschützes. An der Brücke Ham Rong hatten sie eine B52 beschädigt. Eine Bombe dieser Maschine traf aber noch voll die Geschützstellung und pulverisierte diese. Jahre später, kurz vor Kriegsende, kam ein kleines Päcken aus China, gewickelt in grobes Packpapier mit einem Brief. Es wurde mitgeteilt, dass fast alle gefallen seien und jemand den Auftrag erhalten hatte, den Brief abzusenden mit einem Kamm, der aus der Außenhaut einer B52 gefertigt war: „Für den deutschen Lehrer!“ Paul sah hinauf zum Sternenhimmel und einige Tränen kullerten ihm über das Gesicht. Hatte ihn die Erinnerung an die Zeit vor fast 50 Jahren doch so mitgenommen? Ihm schien, als wäre der Einsatz von 1964 erst heute abgeschlossen und aufgearbeitet, nachdem er das Land erlebt hat. Verstohlen wischte er seine Tränen ab, erhob sich und fuhr nach unten in seine Kabine, um sich für das Abendessen umzuziehen.

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